Das Hebammenklischee

Röcke mit Wollsocken. Haare auf den Zähnen. Warzen im Gesicht. Auffällige Ohrringe. Ungefähr so stellt sich die Gesellschaft den Prototyp einer klassischen Hebamme vor – zumindest waren die Ähnlichkeiten der Zeichnungen, die wir am ersten Tag in der Hebammenschule zum Thema «Die Klischeehebamme» anfertigen mussten, frappant.

«So»,  das dachten wir angehenden Hebammen, «so sieht uns die Gesellschaft.»

Weitere Ausprägungen der ‚klassischen Hebamme‘ waren weisses Haar, freundlich und geduldiger Gesichtsausdruck. Gross und stämmiger Körperbau.

Zudem taucht die Hebamme stets in Begleitung ihres Koffers auf. Gefüllt mit diversen Utensilien. Für jede Möglichkeit ist sie ausgerüstet mit Hörrohr, Abnabelklemme oder Tinkturen. Sie weiss, was sie will und tut. Eine Frau, die sich auskennt mit Kräutern gegen allerlei Leiden, aber auch praktische Handgriffe beherrscht.

In unserer Praxis sind wir entsprechend eher abnorm unterwegs. Allfällige graue Haare sind geschickt kaschiert. Auf den Zähnen rasieren wir uns regelmässig. Röcke tragen wir höchstens im Sommerlook und Wollsocken ausschliesslich vor dem Cheminée im Winter.

Dass wir dem gängigen Hebammenklischee wohl tatsächlich nicht ganz entsprechen, musste ich spätestens feststellen, als ich kürzlich eine Familie mit neugeborenem Baby zum ersten Mal besuchte.

Ich klingelte unten an der Haustüre und wurde eingelassen. Im Treppenhaus hörte ich das grössere Kind – ein dreijähriges Mädchen – fragen, ob jetzt die Hebamme komme. Was die Mutter bejahte.

Oben bei der Wohnung angekommen, begrüsste ich die Familie, und trat ein. Das Mädchen blieb draussen am Treppengeländer stehen und machte keine Anstalten, uns in die Wohnung zu folgen.

Plötzlich rief sie die Treppe herunter: «Hallo, Hebamme! Wo bist du?»

Ich wagte mich kaum «Hier!!!» zu rufen. Hätte auch nicht viel genutzt. Denn der Papa musste relativ viele Erklärungs- und Überzeugungskünste anwenden, bis das Mädchen glaubte, dass ich echt wirklich DIE Hebamme bin.

Während meiner Tätigkeit als Hebamme habe ich mit vielen verschiedenen Berufskolleginnen zusammengearbeitet. Und die wenigsten entsprechen dem klassischen Hebammen-Klischee unserer Ausbildung. Und seien wir ehrlich: Vorurteile gibt es in jeder Berufsgruppe: Banker, Lehrer, Verkäufer, Buchhalter.

Trotzdem habe ich mir vor dem nächsten Besuch kurz überlegt, die Haare an den Zähnen nicht zu rasieren und mir eine zusätzliche Warze aufzukleben. Hab’s dann aber sein gelassen. Zum Glück. Denn beim zweiten Mal rief das Mädchen nach dem Klingeln gleich meinen Namen inklusive Berufsbezeichnung durch das ganze Treppenhaus.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.